• Belgrad 2020

    Atelierstipendium der Kulturstiftung Thurgau

    "In Belgrad zu sein ist wie eine Zeitreise, in eine prosperierende Vergangenheit und gleichzeitig in eine dystopische Zukunft. Mit meinen Künstlerinnenaugen betrachtet ist die Stadt eine riesige Installation im stetigen Prozess mit lauter eigenwilligen Akteuren wie Zeit, Wetter, Politik, Menschen, Kriegszerstörung, ausländischen Investoren, Subkultur und alternativen Bewegungen. Zielgerichtet scheint mir wenig, und das birgt eine grosse Freiheit. Ich empfinde es als Privileg, diese Momentaufnahme der Stadt, die Atmosphäre grosser Veränderungen in der Luft zu spüren. Das alles als grossen Gegensatz zu unserer oberflächlich perfekten Welt zu Hause."

    Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau bietet KünstlerInnen sowie VermittlerInnen mit Thurgaubezug aus sämtlichen Sparten einen Atelieraufenthalt in der serbischen Hauptstadt Belgrad an. Der Aufenthalt in Belgrad führt die KünstlerInnen und VermittlerInnen an den Rand des sich formierenden Europas und in die Peripherie des vertrauten mitteleuropäischen Kulturraumes. Belgrad gehört zu den grössten Städten Südosteuropas, wo Jugendstilbauten und Art-Deco-Architektur mit Plattenbauten und postmodernen Glaspalästen kontrastieren. Das Atelierstipendium in Belgrad soll demnach zur Entwicklung und Realisierung eines eigenständigen künstlerischen oder kuratorischen Vorhabens genutzt werden oder den Freiraum schaffen, die künstlerischen oder kuratorischen Interessen und Kompetenzen gezielt zu vertiefen und zu erweitern.

    "In Belgrad möchte ich neue Möglichkeiten erproben, indem ich die verschiedenen Stränge meines künstlerischen Werdegangs, wie Textilentwurf, Illustration, Comic, Zeichnung, Performance, Installation und Skulptur zusammenbringe. Schon seit einiger Zeit verbinden sich diese Elemente organisch in verschiedenen Formationen, jedoch möchte ich die Arbeit zu einem expilziteren Konglomerat zusammen schmelzen. Mit Hilfe meiner Vorgehensweisen, wie Aktionen im öffentlichen Raum, Zeichnung, Skizzenhefte, aber auch anhand zeitgenössischer und historischer Ereignisse möchte ich untersuchen, wie Ausdrucksformen vom Ort und vom Zeitpunkt ihrer Entstehung abhängen. Meine Vision besteht darin, Ausdruck und Sprache zur skulpturalen Form werden zu lassen und die komplexen Ebenen der Installation zu bündeln, sowie sie in Beziehung zu zeitgenössischer Zeichnung und Malerei zu stellen. Die Ausseinandersetzung mit der für mich interessanten Kulturgeschichte Belgrads, Architektur, Ausstellungen etc. und die Begegnungen im öffentlichen Raum sollen inhaltliche Konzentration und vielschichtige Bedeutungen generieren.
    Ein weiterer inhaltlicher Aspekt in materieller Hinsicht sind die Tücher und Gardinen, auf denen ich arbeite. Dieses Trägermaterial kaufe ich auf Flohmärkten und in Brockenhäusern am Ort. Zum einen tragen diese Objekte bereits eine sich mir verschliessende Geschichte in sich und zum anderen ist es nachhaltiges Material. Diese Tücher werden von mir auch immer wieder bemalt, ausgewaschen und überarbeitet. Masslose Produktion und Verschwendung wird im Namen der Kunst oftmals schnöde missachtet, dem möchte ich mit meinem Modus operandi entgegen wirken.
    Für meine künstlerische Weiterentwicklung sind Atelieraufenhalte unerlässlich. Grosse Städte sind inspirierend durch ihren lebendigen Dschungel von Kunst, Kultur und Menschen unterschiedlicher Herkunft. Ich kann wertvolle Kontakte knüpfen und den Austausch mit anderen Künstlern pflegen. Mich in eine neue Welt einlassen und einleben. Mich in einer ersten Phase verloren fühlen und mich nach mir selbst und meinem Tun neu befragen. Die beschauliche Umgebung hier verlassen, ebenso dem vollen Terminkalender entfliehen, der es mir schwer macht, mich zu konzentrieren. Ein Atelieraufenthalt verschafft Distanz, Raum, Zeit und Energie, mich neuen künstlerischen Herausforderungen zu stellen."

    Lika Nüssli 

    • Foto: Daniel Sutter
      Foto: Daniel Sutter
    • Foto: Tamara Tasic
      Foto: Tamara Tasic